In grauer Vorzeit dachte man sich die Erde als ein Viereck und den Himmel als eine darüber gewölbte Schale. Am Rand und in der Mitte wurde der Himmel von Balken gestützt, damit er die Erde nicht erdrücke. Dieser Mittelbalken hieß „Tai Chi“ – „der große Balken“. Demgemäß sollte auch der Mensch sein: Die Füße auf der Erde, der Kopf in den Wolken; er soll die Mitte sein und die Verbindung zwischen Erde und Himmel bilden.
Kosmologisch gesehen ist Tai Chi ein Name der die Chinesen dem „Namenlosen“, dem „Urgegebenen“, „Unbedingten“, „Eigenschaftslosen“ gegeben haben. Tai Chi ist somit der aus dem Unendlichen kommende Ursprung des Lebens, der Himmel und Erde im Innersten zusammenhält – das höchste Eine - „es ist der Ursprung von Bewegung und Ruhe und die Mutter von Yin und Yang“ (Wang Tsung-Yüeh).
Die zwei polaren Kräfte Yin und Yang bedingen sich, wechseln sich ab und ergänzen sich. Alles Existierende wandelt sich stetig. Dieser Wandel folgt dem Rhythmus von Yin und Yang, dem Tao, welches selbst ewig und unwandelbar ist. Tai Chi Chuan („die Faust des höchsten Einen“) ist eine Bewegungskunst, die einerseits die Polarität und andererseits den Wandel – also Tai Chi – verwirklicht. Tai Chi Chuan ist eine Folge von vorgegebenen Bewegungen.
Über den Zeitpunkt der Entstehung des Tai Chi Chuan gibt es keine schriftlichen Quellen. Man nimmt an, daß Tai Chi Chuan, also die Bewegungsform, vor etwa 300 Jahren entstanden ist – aus taoistischen Meditations- und Atemübungen und damals bekannten Kampfkünsten.
Der Legende nach entwickelte der taoistische Mönch Chang San-Feng im
12. Jahrhundert n. Chr. Tai Chi Chuan. Er war ein Meister der harten („äußeren“) Kampfkünste (enstanden im 6. Jahrhundert im Kloster Shaolin). Chang, der harten Kampfkünste „überdrüssig“, suchte einen neuen Weg, bei dem innere Energie mittels Meditation eingesetzt werden sollte. Er beobachtete den Kampf eines Kranichs mit einer Schlange, so wird überliefert, und entdeckte die Polaritäten von Yin und Yang. Daraus soll er die Urform von Tai Chi Chuan, die sogenannten 13 Bewegungsformen, geschaffen haben.
Heute kennt man vier Hauptstile des Tai Chi Chuan, nämlich Ch´en-, Sun-, Wu- und Yang-Stil. Dies sind die sogenannten „Familienstile“, deren Geheimnisse nur innerhalb der Familie weitergegeben wurden. Ein Außenstehender konnte nur Meisterschüler werden, wenn er das Vertrauen eines Meisters erlangt hatte. So gehörte er fortan zur Familie, zu absoluter Loyalität verpflichtet.
Das heute verbreitete Tai Chi Chuan, das von Millionen Chinesen und inzwischen auch immer mehr Nichtchinesen als „Schattenboxen“ geübt wird, bezeichnet man als öffentliches Tai Chi Chuan. Darunter versteht man vereinfachte Formen, die der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Erst in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde Tai Chi Chuan in der westlichen Hemisphäre - zunächst in den USA - bekannt. Das von Schülern weitergegebene Tai Chi Chuan („Öffentliches Tai Chi Chuan“) weist einen großen Unterschied zum authentischen, von Meisterschülern weitergegebene Tai Chi Chuan („Familienstil“) auf. Dies wurde über Generationen entwickelt, vertieft und weitergegeben.